2. KAPITEL

Washington, D. C. - Zwei Monate später

Vanessa Kohler hatte vor, das Interview mit Terri Warmouth in der Cruise On Inn zu führen, aber nicht, weil die sechsunddreißigjährige Speditionsangestellte behauptete, auf dem Parkplatz vor dem Restaurant entführt worden zu sein. Vanessa hatte sich für diese Kneipe entschieden, weil der Scotch hier billig war und sie rauchen konnte, ohne missbilligende Blicke ihrer Kollegen zu riskieren.

Vanessa war eine trinkfeste, spindeldürre Kettenraucherin mit verfilztem blondem Haar und blassblauen Augen. Die neunundvierzigjährige Reporterin pfiff auf ihr Aussehen und hüllte sich mit Vorliebe in ausgebeulte Jeans und weite Pullover, es sei denn, sie war beruflich unterwegs. Für diesen Termin hatte sie sich etwas zurechtgemacht. Über einem T-Shirt und einer engen Jeans trug sie eine schwarze Lederjacke.

Die Reporterin schaute auf ihre Armbanduhr. Es war fast neun, und Warmouth hatte versprochen, gegen halb neun in der Kneipe aufzutauchen. Vanessa beschloss, ihr noch einen Scotch Zeit zu geben, bevor sie nach Hause fuhr. Ihr Freund Sam Cutler war sowieso unterwegs, um über irgendein Rockkonzert zu berichten. Und in der Glotze lief auch nichts. Sie konnte sich Schlimmeres vorstellen, als in einer Umgebung zu trinken, die vorwiegend aus Rauch, lauter Countrymusik und grölenden Billardspielern bestand.

Ein kühler Luftzug verriet Vanessa, dass jemand die Tür der Kneipe geöffnet hatte. Sie blickte zum Eingang. Eine große Frau mit zu viel Make-up tauchte in das rotgrüne Licht der Jukebox

Sie sah sich nervös um, bis Vanessa die Hand hob. Die Frau schob sich eilig zu ihrem Tisch durch.

»Vanessa Kohler vom Exposed«, stellte sich Vanessa vor und reichte Warmouth ihre Karte.

»Entschuldigen Sie die Verspätung«, bat Warmouth. Sie setzte sich und legte Vanessas Visitenkarte neben eine Bierlache. »Heute ist Larrys Bowlingabend, und seine Mitfahrgelegenheit hat sich verspätet.«

»Kein Problem«, erwiderte Vanessa.

»Er darf nicht wissen, dass ich ausgehe. Dann hätte er mich ausgefragt, wohin ich will und mit wem ich mich treffe. Ich hoffe nicht, dass er aus dem Bowlingcenter anruft. Wenn ich nicht zu Hause bin, wird er mich die ganze Nacht ausfragen.«

Vanessa schenkte der anderen Frau ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es weibliche Solidarität signalisierte. »Darf ich Ihnen ein Bier spendieren?«

»Klingt gut.«

Vanessa winkte der Kellnerin und bestellte. Sie wartete, bis die Frau wieder gegangen war. »Also, Terri, wollen Sie mir jetzt Ihre Geschichte erzählen?«

»Ja, klar«, antwortete die Frau, aber sie klang alles andere als zuversichtlich.

Vanessa legte ein Diktiergerät auf den Tisch. »Stört es Sie, wenn ich es aufnehme? Dann kann ich das, was Sie mir erzählen, genau berichten.« Sie verschwieg der Frau absichtlich, dass eine Tonbandaufnahme als stichhaltiger Beweis vor Gericht galt, falls einer dieser vielen Idioten auf die Idee kam, das Magazin zu verklagen.

Warmouth zögerte kurz. »Ja, klar.«

Vanessa drückte die Aufnahmetaste.

»Das kommt doch in Ihr Magazin, stimmt's? Mit meinem richtigen Namen und alles?« wollte Warmouth wissen

»Worauf Sie sich verlassen können.«

»Das ist nämlich der einzige Weg, damit Larry es glaubt. Wenn es im Exposed steht. Er liest das Magazin jede Woche wie die Bibel. Er sagt immer, Exposed wäre die einzige Zeitung, der er vertrauen kann.«

»Wie schön, dass wir so treue Leser haben.«

»Deshalb habe ich Sie ja angerufen. Weil Larry so ein treuer Leser ist.«

»Klar. Also, wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie schwanger?«

Warmouth starrte auf die Tischplatte und nickte.

»Sie müssen etwas sagen, für die Aufnahme, Terri«, erinnerte Vanessa sie.

»Ach ja. Ja, ich ... ich bin ... schwanger.«

»Und das war eine ... Überraschung?«

Warmouth wurde rot. »Allerdings.« Sie sah hoch, ihr Blick bettelte um Verständnis. »Larry wird sofort wissen, dass es nicht von ihm ist. Wir haben es nach der Hochzeit wie verrückt probiert.« Warmouth zögerte. »Davon schreiben Sie doch nichts in dem Magazin?«

»Nicht, wenn Sie es nicht wollen.«

»Nein. Es würde ihn irgendwie schrecklich in Verlegenheit bringen.«

»Was?«

»Der Arzt hat uns gesagt, dass ich okay bin, aber Larrys Spermien schwimmen irgendwie nicht schnell genug. Ich hab nicht alles verstanden, aber er fühlte sich damals schrecklich, irgendwie unmännlich, verstehen Sie? Deshalb weiß er sofort, dass es nicht sein Kind ist.«

»Und wessen Kind ist es dann?«

»Eben das der Aliens.« »Derjenigen, die Sie vom Parkplatz der Cruise Ort Inn entführt haben?«

»Ja.« Warmouths Stimme klang so kläglich, dass Vanessa sie in dem Lärm der Kneipe kaum verstehen konnte.

»Erzählen Sie mir, wie es passiert ist.«

»Ich war hier ...«

»Wann war das?«

»Auch an einem Abend, als Larry Bowling spielte.«

»Also wusste Larry nicht, dass sie ausgegangen sind?«

»Nein.«

»Waren Sie allein?« Vanessa beobachtete Warmouth bei dieser Frage scharf. Ihre Interviewpartnerin senkte den Kopf und lief dunkelrot an.

»Ja, ich war allein«, behauptete sie schließlich.

»Wieso waren Sie hier? Die Cruise On Inn ist ziemlich weit von ihrem Haus entfernt.«

»Es ist nicht weit von meiner Arbeit entfernt.«

»Sie waren also schon mal mit Kollegen von der Arbeit hier, stimmt's?«

»Mit einigen meiner Freundinnen«, antwortete sie etwas zu schnell. »Aber an diesem Abend waren Sie allein hier?«

»Ja. Und es wurde spät. Deshalb musste ich mich beeilen, damit ich zu Hause war, bevor Larry kam. Er mag nicht, wenn ich alleine ausgehe.«

»Ist Larry eifersüchtig?«

»Allerdings. Er behauptet immer, dass die Männer mich anstarren und ich sie ermutige, obwohl ich das gar nicht tue. Das ist zwar irgendwie schmeichelhaft, aber es kann einem auch ganz schön auf die Nerven gehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Vanessa nickte. »Gut, erzählen Sie mir jetzt von den Aliens.« »Also, ich bin zu meinem Auto gegangen, das am Ende des Parkplatzes abgestellt war. Ich wollte gerade die Tür aufschließen, als ich dieses komische Summen hörte. Ich drehte mich um, und da war es.«

»Da war was?«

»Das Raumschiff. Es war sehr groß und rotierte und sah aus wie eine fliegende Untertasse, aber mit Lichtern.«

»Irgendwelche besonderen Lichter?«

»Grüne, glaube ich. Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, weil ich ziemlich erschüttert war. Es sah jedenfalls ganz so aus wie die Raumschiffe, über die Sie in Ihrem Magazin immer berichten. Also kam es vermutlich von demselben Planeten.«

»Was für ein Planet?«

»Das verraten Sie ja nie, aber einer der anderen Entführten aus Ihrem Magazin kannte den Namen des Planeten. Ich wette, mein Schiff kam auch daher, weil er ein ganz ähnliches Raumschiff beschrieben hat.«

»Was ist passiert, nachdem Sie das Raumschiff gesehen haben?«

»Von da an wird alles irgendwie undeutlich. Ich erinnere mich an einen Lichtstrahl, der vom Himmel gekommen ist, aber es verschwimmt alles wie vor einer Operation, wenn man Ihnen diese Medikamente gibt.«

»Einige unserer Entführten haben gesagt, es ähnelte einem guten Drogenrausch.«

»Ja, so ähnlich war es. Sie wissen schon, als wenn man irgendwie schwebt. Genau so ging mir das. Ich erinnere mich aber noch daran, dass ich auf einer Art von Tisch festgeschnallt wurde und keine Kleider mehr anhatte. Und dann lag dieser ... Große auf mir.«

»Sie hatten Sex?« »Ich weiß nicht, wie die das machen. Gespürt habe ich eigentlich nichts. Und dann bin ich auf dem Parkplatz wieder zu mir gekommen.«

»Nackt?«

»Nein. Diese Aliens müssen mir meine Kleider wieder angezogen haben.«

»Und das Schiff war nicht mehr da?«

»Sie müssen verschwunden sein, nachdem sie mich zur Erde zurück gebeamt haben.«

»Sie meinen, sie sind geflüchtet, bevor jemand sie sehen konnte?«

»Ja, sie sind geflüchtet«, wiederholte Terri leise und fing an zu weinen.

Vanessa schaltete das Diktiergerät aus, beugte sich über den Tisch und ergriff Warmouths Hand. »Larry wird Ihnen diese Story nicht abkaufen, Terri. Mir ist klar, dass Sie hoffen, er würde es glauben, weil er mein Magazin so schätzt, aber er wird es rauskriegen.«

Terris Schultern zuckten, und ihr liefen die Tränen über die Wangen.

»Wer ist der Vater? Ein Arbeitskollege?«

Warmouth nickte kurz. Sie hob ihr tränenüberströmtes Gesicht, und Vanessa fragte sich, ob sie jemals zuvor einen so kläglichen Ausdruck gesehen hatte.

»Aber er streitet ab, dass er der Vater ist«, stieß Warmouth zwischen heftigen Schluchzern hervor. »Er sagt, ich hätte herumgevögelt, oder es müsste von Larry sein.«

»Das klingt, als wäre er ein richtig nettes Herzchen«, bemerkte Vanessa.

Warmouth rieb sich die Augen. »Ich habe wirklich geglaubt, er wäre nett.« »Also, Sie können nicht auf den Kerl zählen, und Ihrem Mann können Sie es auch nicht sagen.«

Warmouth nickte wieder.

»Und wenn Sie abtreiben?«

»Wie soll ich das bezahlen? Larry verwaltet unsere Konten. Wenn ich Geld von ihm haben wollte, müsste ich ihm erklären, wofür ich es brauche. Er würde sich Quittungen zeigen lassen, wenn ich einfach behauptete, ich hätte etwas gekauft.«

Vanessa nahm die Visitenkarte vom Tisch, die sie Terri Warmouth gegeben hatte, und schrieb einen Namen und eine Telefonnummer auf die Rückseite.

»Rufen Sie diese Ärztin an, Terri. Sagen Sie ihr, dass Sie ihren Namen von mir haben. Ich benachrichtige sie gleich als erstes morgen früh. Also rufen Sie bei ihr gegen zehn von Ihrer Arbeitsstelle aus an. Die Ärztin wird sich um Sie kümmern.«

»Aber das Geld ... ?«

Vanessa drückte Terris Hand. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Nehmen Sie diese Angelegenheit erst einmal in Angriff.«

»Ich möchte so gern ein Baby«, schluchzte Warmouth. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«

»Das liegt bei Ihnen. Niemand zwingt Sie dazu. Denken Sie darüber nach. Ich weiß, dass es eine schwere Entscheidung ist.« Vanessa machte eine Pause. »Sie könnten Larry auch verlassen. Sie trennen sich von ihm und bekommen Ihr Baby.«

Warmouth sah sie bestürzt an. »Ich könnte Larry niemals verlassen. Ich liebe ihn.«

»Würde er denn ein Kind akzeptieren, das nicht von ihm ist?«

»Nein, niemals! Er würde mich umbringen! Für ihn als Mann ist das sehr wichtig. Wenn er herauskriegt, dass ich ihn betrogen habe ... und dabei liebe ich ihn doch! Ich will ihn nicht verlassen.« Sie wirkte sichtlich gequält

Vanessa stand auf. »Ich rufe meine Freundin morgen früh an. Alles Weitere liegt dann bei Ihnen.« Sie legte das Geld für ihre Getränke auf den Tisch und steckte das Diktiergerät wieder in die Tasche. »Kommen Sie, verschwinden wir hier.«

Vanessa lächelte. »Ich begleite Sie zu Ihrem Wagen. Damit die Aliens Sie nicht holen.«

Terri Warmouth war nicht nach Lächeln zumute. »Ich wünschte, sie würden es tun«, sagte sie.

Vanessa fuhr von der Kneipe in die Büros vom Exposed, um die Geschichte über eine gigantische Ratte zu Ende zu schreiben, die in Slums Babys stahl. Angeblich war die Ratte so groß wie ein deutscher Schäferhund. Patrick Gorman, der Boss der Zeitung, hatte sich diese Story bei der wöchentlichen Redaktionskonferenz ausgedacht und Vanessa dazu verdonnert, sie zu schreiben. Sie fand diese Idee geschmacklos und hatte vehement protestiert. Schließlich hatte sie Gorman die Zusage abgerungen, sie gegen Terri Warmouths Entführungsmärchen durch Aliens ersetzen zu dürfen. Daraus würde ja nun leider nichts werden. Das Magazin residierte in zwei Stockwerken eines ausgebauten Lagerhauses mit Blick auf die Kuppel des Capitols. Dieses Viertel von Washington schwankte zwischen Verfall und Vornehmheit. In denselben Blöcken lagen verlassene Gebäude und Lofts, Behausungen von Junkies und Obdachlosen und renovierte Reihenhäuser, die jungen, aufstrebenden Arbeitnehmern gehörten. Vanessa schloss die Haustür auf, sperrte sie hinter sich zu und ging an der Leserbriefredaktion vorbei. Als sie bei der Zeitung anfing, hatten deren Obszönitäten sie noch amüsiert. In den letzten Jahren waren die Beiträge jedoch so bizarr geworden, dass sie Vanessa schon fast pervers vorkamen.

Sie ging die Treppe zum ersten Stock hinauf und meldete sich beim Sicherheitsbeamten, der ihr sagte, dass niemand sonst in der Redaktion war. Das war Vanessa nur recht. Nach ihrem Treffen mit Terri Warmouth sehnte sie sich nach Ruhe. Die Frau hatte sie erschöpft. Bedürftige Menschen flößten Vanessa immer Unbehagen ein, eigentlich merkwürdig, angesichts ihres Berufs. Die Regenbogenpresse lebte von den exotischen und psychotischen Geschichten, die ihnen Leute erzählten, die Schwierigkeiten hatten, sich in der realen Welt zurechtzufinden. Die Menschen, die Vanessa interviewte, glaubten für gewöhnlich fest an eine andere Welt, in der so viel Merkwürdiges und Wundervolles passierte, dass sie in ihr den Ansprüchen ihrer realen und meist trostlosen Existenzen entfliehen konnten.

Vanessa tippte ihren Sicherheitscode ein und schloss mit ihrem Schlüssel die Tür zum zweiten Stock auf. Dort wurde gewöhnlich fleißig an der nächsten Ausgabe gearbeitet. Das Büro wirkte durch seine gewölbte Decke größer als es in Wirklichkeit war. Die Decke war in demselben Grau gestrichen wie die dicken Dachbalken. Vanessa brühte sich eine Tasse Instantkaffee auf, bevor sie die Neonbeleuchtung anschaltete. Sie beleuchtete die Verschläge, in denen die Reporter arbeiteten. Ihre Kabine lag auf der anderen Seite des Ganges neben einem deckenhohen Bücherregal, in dem Ausgaben des Exposed und anderer Exemplare der Boulevardpresse lagen. Daneben zwängten sich zwei schwarze Aktenschränke aus Metall und ein Schreibtisch, auf dem ihr Karteikasten und ihr Computerbildschirm standen.

Vanessa gehörte zu den wenigen Auserwählten, die an einem Fenster saßen, aber es war zu dunkel, als dass sie draußen etwas hätte erkennen können. Sie nippte an ihrem Kaffee und plagte sich mit der Geschichte ab. Gesellschaft leisteten ihr die nächtlichen Geräusche, die bis hinauf in die heiligen Hallen drangen, wo die Büttel des Exposed für wenig Lohn und keinerlei Prestige Frondienste leisteten. Das Gehalt, das die Zeitung Vanessa zahlte, war lächerlich, aber sie war auf das Geld nicht angewiesen. Was sie benötigte, war der Presseausweis und damit der Zugang zu Datenbanken, damit sie ihre eigentliche Recherche fortsetzen konnte

Vanessa wohnte in einem Backsteinhaus im Nordwesten Washingtons. Die Gegend war schwer angesagt und voller Restaurants, Jazzclubs und Bars. Nachts machte eine lautstarke Meute von Collegestudenten die Gegend unsicher. Vanessa genoss diese chaotische Szenerie, und ihre Wohnung lag so weit von der Achtzehnten entfernt, dass der Lärm nicht zu aufdringlich wurde. Weit nach ein Uhr nachts öffnete sie die Tür ihrer Wohnung im vierten Stock des Hauses. Sie hätte sich zwar etwas Besseres leisten können, aber sie lebte schon seit Jahren hier. Ihre Nachbarn ließen sie in Ruhe, und sie hatte genug Platz für ihr Recherchematerial, das sie zum größten Teil im Gästezimmer untergebracht hatte. Allmählich jedoch nahmen die Unterlagen auch Teile des Wohnzimmers in Beschlag. Es handelte sich dabei um den Bericht der Warren-Kommission, Bücher, die ihn kritisierten, um Schriften über die Vertuschung der Rosewell-Geschichte und Magazine über verdeckte Operationen der CIA und dergleichen. Versprach ein Buch oder ein Artikel eine angebliche Verschwörung der Regierung aufzudecken besaß Vanessa es oder hatte es zumindest gelesen. Sie schaltete das Licht an. Beim Anblick des Pakets mit einem Absender aus New York sank ihr der Mut. Das Paket lag auf dem kleinen Tisch im Flur, auf dem Sam die Post deponierte. Vanessa nahm es mit ins Wohnzimmer. Sie knipste die Lampe neben dem Sofa an und setzte sich. Sie stellte das Paket auf die Magazine und alten Zeitungen, die sich auf dem Couchtisch stapelten. Eine Minute lang starrte sie das Paket an, bevor sie das braune Packpapier abriss. Zuoberst auf ihrem Manuskript lag ein Brief, der den Titel und die Versicherung verdeckte, dass sie die alleinige Autorin war. Vanessa zögerte, bevor sie den Brief nahm. Er war von dem Verleger des Parthenon-Verlages unterschrieben, der angeblich neuen Ideen offen gegenüberstand und keine Angst hatte, das Establishment zu provozieren. Der Verlag hatte bereits einige sehr umstrittene Enthüllungsgeschichten über Verschleierungsmanöver der Regierung veröffentlicht sowie ein Buch über einen Marinesoldaten, der Interna über ein Übungsmanöver verraten hatte, bei dem zwei Rekruten ums Leben gekommen waren.

Verehrte Miss Kohler,

ich habe Phantoms mit großem Interesse gelesen. Leider habe ich mich entschieden, dass Ihr Buch nicht für Parthenon Press geeignet ist. Ich wünsche Ihnen alles Gute dabei, Ihr Manuskript woanders unterzubringen.

Hochachtungsvoll Walter Randolph

Vanessa kniff die Augen zusammen. Am liebsten hätte sie das Manuskript durchs Zimmer geworfen oder etwas zertrümmert. Sie hielt ihre Wut mühsam im Zaum und versuchte, sich abzuregen. Irgendwas stimmte hier nicht. Es konnte natürlich daran liegen, dass sie beim Exposed arbeitete und nicht bei der New York Times. Doch keine seriöse Zeitung würde jemanden mit ihrer Geschichte einstellen, also blieb ihr diese Seriosität verschlossen. Dennoch war Vanessa davon überzeugt, dass hier weit finsterere Mächte am Werke waren.

Außerdem verstand sie etwas von Recherche und hatte Walter Randolphs geheime Privatnummer herausgefunden. Sie hatte den Verleger überprüft, als sie überlegt hatte, wem sie ihr Manuskript schicken sollte. Vanessa wählte die Nummer in Connecticut und wartete, während das Telefon mehrmals läutete.

»Hallo?« Die Stimme klang verschlafen.

»Walter Randolph?«

»Wer ist da?«

»Vanessa Kohler.« »Wer?«

»Phantoms. Sie haben das Manuskript gerade abgelehnt.«

»Es ist halb zwei Uhr morgens, Miss Kohler«, erwiderte Randolph, der sich deutlich bemühen musste, höflich zu bleiben. »Würden Sie mich bitte im Büro anrufen?«

»Wer hat Sie unter Druck gesetzt?« »Um diese Uhrzeit diskutiere ich so etwas nicht.« »War es mein Vater? Hat Sie jemand von der Regierung aufgesucht? Wurden Sie bedroht oder vielleicht bestochen?«

»Ich habe Ihr Manuskript abgelehnt, weil Ihre Behauptungen nicht ausreichend belegt sind, Miss Kohler. Hinter meiner Entscheidung steckt keine Verschwörung.«

»Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich Ihnen das glaube?«

Vanessa hörte einen Seufzer am anderen Ende. »Ich weiß nicht, wie Sie an diese Nummer gekommen sind, aber ein Anruf um diese Uhrzeit ist eine Verletzung meiner Privatsphäre. Ich werde das Gespräch gleich beenden, aber da Sie ja unbedingt die Gründe wissen wollen, werde ich sie Ihnen nennen. Sie haben nicht nur versäumt, Ihre dramatischen Behauptungen zu verifizieren. Darüber hinaus dürfte vor allem Ihre Vergangenheit verhindern, dass irgendein Verleger Ihnen auch nur die geringste Glaubwürdigkeit einräumt.«

»Meine Vergangenheit?«

»Ihre Krankengeschichte, Miss Kohler. Und jetzt muss ich auflegen. Ich hatte einen harten Tag und brauche meinen Schlaf.«

»Wer hat Ihnen verraten, dass ich in der Psychiatrie war?«

Die Leitung war jedoch bereits tot. Vanessa legte auf, wählte die Nummer erneut und hörte das Besetztzeichen. Sie wollte schon den Telefonapparat an die Wand schleudern, als die Haustür aufging und Sam Cutler hereinkam. Er hatte die Tasche mit seiner Kameraausrüstung geschultert, trug eine Jeans und unter seiner Windjacke ein schwarzes T-Shirt.

Vanessa war etwa ein Meter siebzig groß. Sam war ein wenig größer und kräftig, während Vanessa eher dürr war. Außerdem war er ein paar Jahre älter als Vanessa, und sein graumeliertes, braunes Haar lichtete sich über der Stirn bereits.

Sam blieb wie angewurzelt stehen, und Vanessa erstarrte mitten in der Bewegung, den Arm erhoben, das Telefon nur Sekunden von seiner totalen Zerstörung entfernt. Sams Blick fiel auf das Manuskript auf dem Couchtisch.

»Eine Ablehnung, was? Ich wollte das Paket eigentlich verstecken, aber dann klingelte das Telefon, und ich habe es vergessen.«

Vanessa ließ den Arm mit dem Telefonapparat fallen. »Jemand hat den Verleger unter Druck gesetzt. Davon bin ich fest überzeugt.«

»Woher willst du das wissen?« Sam achtete darauf, dass seine Stimme neutral klang. Schon der leiseste Unterton von Zweifel bei diesem Thema konnte einen unkontrollierten Wutanfall bei Vanessa auslösen.

»Er wusste, dass ich in der Psychiatrie war! Wie hat er das mit dem Sanatorium herausgefunden, wenn ich es ihm gar nicht erzählt habe?«

Sam ging durch das Zimmer. Er hütete sich, Vanessa anzufassen, aber er hoffte, dass sie sich beruhigte, wenn er sich dicht neben sie stellte.

»Vielleicht stand ja was in den Zeitungen«, meinte er.

»Dein Vater ist im Moment auf allen Titelseiten. Vielleicht hat man auch etwas über seine Familie geschrieben.«

Vanessa schüttelte vehement den Kopf. »Sie wollen mich in Verruf bringen. Nie im Leben würden sie zulassen, dass dieses Manuskript erscheint.« »Wer ist sie?« fragte Sam, obwohl er wusste, dass er sich auf dünnes Eis wagte.

»Mein Vater, das Militär, die CIA. Glaubst du etwa, dass nicht alle darin verwickelt waren? Wenn die Wahrheit ans Licht kommt, erscheint Watergate dagegen wie ein Kaffeekränzchen. Sie können nicht riskieren, dass die Öffentlichkeit jemals auch nur einen Hauch von dem erfährt, was ich weiß.«

Diese Gespräche kannte Sam zur Genüge. »Wenn das stimmt - warum hat dann noch niemand versucht, dich zu töten?« fragte er ruhig. »Warum hat niemand dein Manuskript gestohlen? Du hast nie ein Geheimnis daraus gemacht, was du vorhast. Alle wissen von deinem Buch. Du hast sogar versucht, diesen Kerl bei der CIA zu interviewen, und nichts ist passiert.«

Vanessa warf Sam einen finsteren Blick zu. »Du verstehst nicht, wie sie vorgehen. Sie könnten das Manuskript zwar stehlen, aber sie wissen, dass ich das Buch einfach noch mal schreiben würde. Außerdem hat meine Anwältin eine Kopie. Würden sie mich umbringen, wüsste jeder sofort, dass ich die Wahrheit gesagt habe.«

»Wer sind alle? Vanessa, ich respektiere wirklich, was du da versuchst, und mir ist auch klar, dass du dich im Recht fühlst. Aber die meisten Menschen, die diese Geschichte hören ... Na ja, sie glauben sie einfach nicht. Die CIA könnte mit Leichtigkeit dafür sorgen, dass dein Tod wie ein Unfall aussieht, wenn sie es darauf anlegen. Niemand würde auch nur den geringsten Verdacht schöpfen, dass du ermordet worden bist, um dein Buch zu verhindern. Die Leute würden glauben, du wärst das Opfer eines willkürlichen Mordes oder hättest einen Herzanfall bekommen oder etwas Ähnliches.«

Vanessa ließ sich auf das Sofa fallen. »Du hast recht«, lenkte sie ein. Sie klang erschöpft. »Und Randolph hat auch recht.«

Sie schloss die Augen und legte ihren Kopf in den Nacken

»Ich bin eine ehemalige Psychiatriepatientin und habe nicht den geringsten Beweis dafür, dass diese Einheit jemals existierte. Es gab ohnehin nie viele Beweise, weißt du? Nur ein paar Seiten, und selbst die sind verschwunden.«

»Du siehst vollkommen fertig aus. Gehen wir schlafen! Morgen früh denkst du klarer. Du wirst herausfinden, was du tun musst, wenn du dich erholt hast.«

»Er wird gewinnen, Sam. Er gewinnt immer, und das wird er auch diesmal. Ich kann ihn nicht aufhalten. Das konnte ich noch nie. Keiner kann das.«

Vanessa ballte die Fäuste und riss die Augen auf. Ihr Blick kochte vor Wut. »Weißt du, wie mein Vater sich seine ersten Sporen bei den Geheimdiensten verdient hat?«

»Nein.«

»Daddy wurde sehr rasch befördert, und zwar seit Anfang 1964, kurz nach dem Attentat auf Kennedy.«

Sam sah sie fassungslos an. »Du glaubst doch nicht...?«

»Ich glaube, dass meine Mutter es wusste. Außerdem glaube ich, dass er sie deshalb umgebracht hat. Er wollte verhindern, dass sie jemals die Wahrheit über das erzählte, was damals in Dallas passiert ist.«

»Hat deine Mutter dir gesagt, sie glaube, dein Vater hätte ... ?« Sam brachte den Satz nicht zu Ende.

»Am Todestag von Kennedy war sie immer sehr aufgewühlt. Wenn ich wissen wollte, was sie habe, weigerte sie sich, es mir zu sagen. Und sie schien eine Todesangst zu bekommen, wenn ich die Frage in Gegenwart meines Vaters stellte.«

»Ach, Vanessa.« Sam ließ sich neben sie auf das Sofa fallen und legte ihr den Arm um die Schultern. »Du redest dir da etwas ein. Und du denkst nicht klar.« Vanessas Wut verrauchte ebenso rasch, wie sie gekommen war. Sie legte ihren Kopf auf Sams Schulter und begann zu weinen.

»Ich hasse ihn, Sam. Ich wünschte, er wäre tot.«

Die Schuld wird nie vergehen
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